Mit dem SPD-Reise-Service Berlin fuhren Nella und Bernd Döbbelin aus unserem Ortsverein anlässlich der 1.Mai-Kundgebung nach Wien. In Ihrem Reisebericht schildern sie ihre Eindrücke vom Besuch der österreichischen Hauptstadt, in der sie auch die Gelegenheit hatten mit den Genossen von der SPÖ zu diskutieren.
Schon am Vortag lernten wir viel von der Wiener Geschichte des letzten Jahrhunderts, die von zahlreichen Konflikten - auch Bürgerkriegsauseinandersetzungen - mit nationalkonservativen, faschistischen und nationalsozialistischen Kräften geprägt ist. Ein immer wiederkehrendes Datum im Straßenbild bei Gedenkstätten und Mahnmalen ist der 12. Februar 1934. An diesem Tag lässt die Regierung Dollfuß mit Militär, Polizei und Bürgerwehren auf die inzwischen verbotenen sozialdemokratischen Schutzbundeinheiten schießen. Nach wenigen Tagen und vielen Toten und Verletzten fallen die letzten Stellungen in den Gemeindebauten am Karl-Marx-Hof in Wien, der Widerstand gegen die faschistischen Kräfte ist gescheitert. Eine tiefsitzende Wunde zwischen den Sozialdemokraten und den Konservativen, die sich erst nach 1945 wieder die Hand geben können.
Am späten Nachmittag nahmen wir an einer Führung durch das großartige Wiener Rathaus teil und versammelten uns danach im historischen Ratssaal. Dort hielt der Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, der von vielen Wienern als Nachfolger von Bürgermeister und Landeshauptmann Häupl genannt wird, für uns ein sehr detaillierten Vortrag über die SPÖ-Stadt und Landes-Politik und ihre intellektuellen Grundlagen und Überzeugungen. Da sich in unseren Reihen auch einige Stadträte, Leiter von städtischen Ämtern und weitere politisch Interessierte zu Wort meldeten, traten in der anschließenden Diskussionsrunde Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten unserer Politik in Österreich und Deutschland zu Tage.
Ein Empfang im prächtigen Festsaal für ca. 600 Wiener Genossinnen und Genossen und auch für unsere Gruppe mit 150 Personen war ein emotional bewegendes Ereignis, bei dem zunächst Erwin Lanc einen beeindruckenden, sehr persönlichen Rückblick auf die wechselhafte Geschichte der Sozialdemokraten in Österreich gab. Der über 80jäjrige Lanc war u.a. Innen- und Außenminister und ist heute Präsident des Int. Instituts für den Frieden. Bürgermeister Häupl beschwor in seiner Rede dann ebenso engagiert die sozialdemokratischen Werte für die heutige Zeit. Er versäumte nicht, bei dieser Gelegenheit eine sozialdemokratische Delegation aus Tschechien und unsere SPD-Gruppe herzlich zu begrüßen verbunden mit dem Hinweis auf Grundwerte, denen alle demokratischen Europäer verpflichtet sind. Mit diesem Appell endete für uns der Vorabend zu den Feierlichkeiten am 1. Mai.
Wien wird seit 1945 nach dem Ausrufen der 2. Republik durchgängig sozialdemokratisch regiert, und das wird am 1. Mai von der Partei gemeinsam mit den Gewerkschaften entsprechend gewürdigt und gefeiert. Aber im Gegensatz zu Deutschland wird der 1. Mai nicht von den Gewerkschaften organisiert sondern von der SPÖ allein. Jeweils unterstützt von einer Musikkapelle finden Sternmärsche der Sozialdemokraten aus allen Bezirken in Richtung Rathausplatz im Zentrum statt. Und so starteten wir frühmorgens als SPD-Delegation zusammen mit der SPÖ und dem dortigen Nationalrat Josef Cap aus dem 17. Bezirk zu einem über 5 km langen Marsch in Richtung Innenstadt, um dann nach einander mit anderen Bezirksgruppen in einem Meer von roten SPÖ-Fahnen mit den drei Pfeilen für Freiheit, Gleichheit und Solidarität über den Ring zum Rathaus zu ziehen. Dort wurden alle Gruppen einzeln begrüßt und auf einer Großleinwand vorgestellt. Ca. 70.000 bis 80.000 Menschen bevölkerten den Platz und konnten dort u.a. die Ansprachen von Bürgermeister Häupl und dem Bundeskanzler Christian Kern anhören. Themen der Kundgebung waren die Bekämpfung der zunehmenden Arbeitslosigkeit in Wien, die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit, der Anspruch der Menschen auf ordentliche und bezahlbare Wohnungen auch in Zeiten der Zuwanderung, die Einhaltung der Menschenrechte, ebenfalls mit Blick auf die Migration in Österreich, und die Warnung vor den populistischen Forderungen bzw. Versprechungen der "Blauen" (bei uns in Deutschland die "Braunen") sowie weitere Anforderungen an die Politik. Wie es Tradition ist, wurde die Kundgebung mit der Internationalen beendet. An zügig aufgebauten Tischen und Bänken auf dem Platz bei schönstem Sonnenschein ergaben sich für uns noch hoch interessante Gespräche mit Wiener Genossinnen und Genossen; interessant besonders deswegen, weil sich bei gleichen Wurzeln in der sozialdemokratischen Geschichte auch Unterschiede in politischen Abläufen und Beurteilungen herauskristallisierten.
Für viele Wiener stand dann wie jedes Jahr nachmittags ein Besuch auf dem Prater auf dem Programm, wo viele Fahrgeschäfte an diesem Tag verbilligt ihre Attraktionen anbieten. Das berühmte Riesenrad mit seiner über 100jährigen Geschichte war für viele von uns im Pflichtprogramm. Entsprechend voll war es natürlich, und wir waren am Ende froh, einen beeindruckenden Tag mit vielen spannenden Erlebnissen auf bequemen Wege mit dem preiswerten und ausgezeichnet funktionierenden ÖPNV abzuschließen.
Nella & Bernd Döbbelin